In einem versteckten Winkel des Waldes, wo die Sonnenstrahlen durch die Blätter tanzen und der Wind Geschichten flüstert, lag die berühmte „Schule der Tiere“. Diese Schule war anders als jede andere. Hier wurden nicht Mathematik oder Grammatik gelehrt, sondern die Kunst, seine eigenen Stärken zu erkennen und zu nutzen. Das war natürlich leichter gesagt als getan, denn die tierischen Schüler hatten die Angewohnheit, ihre Schwächen mit großer Hingabe zu pflegen.
Die Rektorin der Schule, Frau Eule Federweis, war für ihre Weisheit und ihren trockenen Humor bekannt. Jeden Montagmorgen begann sie die Woche mit denselben Worten: „Willkommen, meine lieben Talente – auch wenn sich einige Talente noch hartnäckig als Schwächen tarnen!“ Danach klappte sie ihr großes Buch der Stärken auf und rief die Schüler auf.
Da war zum Beispiel Fritz, der Frosch. Fritz hatte die Angewohnheit, sich mit der Giraffe Gerda im Hochspringen zu messen. Immer wieder sprang er mit aller Kraft und landete doch nie höher als Gerdas Knie. „Fritz,“ sagte Frau Federweis eines Tages, nachdem sie ihn nach einem besonders misslungenen Sprung aufgelesen hatte, „warum um alles in der Welt willst du Giraffen-Sachen machen, wenn du doch der beste Weitspringer in diesem Wald bist? Oder kann Gerda etwa drei Meter weit springen?“ Fritz grummelte etwas Unverständliches, aber insgeheim wusste er, dass die Eule recht hatte.
Gerda selbst hatte ähnliche Probleme. Sie wollte unbedingt wie Dachs Dieter buddeln können. Mit ihrem langen Hals und ihren schlanken Beinen war sie jedoch denkbar ungeeignet für die Arbeit unter der Erde. Ihre Buddelversuche endeten oft in wackligen Löchern, in denen sie ihre Beine verknotete. „Gerda, meine Liebe,“ sagte Frau Federweis mit einem Lächeln, „kein Tier hier kann so weit blicken wie du. Warum gräbst du in der Erde, wenn der Himmel doch dein Reich ist?“ Gerda schnaubte, aber auch sie musste zugeben, dass ihr Blick über die Baumwipfel faszinierend war.
Der schlimmste Fall war allerdings Freddy, der Fisch. Freddy bestand darauf, am Lauftraining mit den Kaninchen teilzunehmen. Jedes Mal, wenn er aus dem Wasser sprang, um über die Strecke zu „rennen“, landete er mit einem klatschenden Geräusch auf dem Boden und musste zurück ins Wasser geschoben werden. „Freddy,“ sagte Frau Federweis eines Tages streng, „wenn du so viel Zeit und Energie darauf verwenden würdest, schneller zu schwimmen, wie du sie auf das Rennen verschwendest, wärst du längst der schnellste Fisch in allen Flüssen und Seen!“ Freddy blubberte beleidigt, doch beim nächsten Schwimmwettbewerb brach er tatsächlich alle Rekorde.
Mit der Zeit begannen die Tiere zu begreifen, dass sie sich besser auf ihre eigenen Talente konzentrierten, statt anderen nacheifern zu wollen. Fritz wurde ein Meister im Weitsprung und gewann den alljährlichen Waldwettbewerb. Gerda wurde die offizielle Ausguckerin der Schule und warnte die Tiere vor Gefahren. Und Freddy? Freddy wurde so schnell, dass er Fische aus benachbarten Flüssen trainierte.
Am letzten Schultag stand Frau Federweis vor ihrer Klasse und sagte: „Denkt daran, meine Lieben: Jeder von euch hat eine Gabe, die nur darauf wartet, entdeckt zu werden. Die Welt braucht keine Giraffen, die buddeln, oder Fische, die rennen. Sie braucht euch – genau so, wie ihr seid.“ Die Tiere applaudierten begeistert, und selbst Fritz sprang so hoch, dass Gerda beeindruckt nickte.
So endete das Schuljahr in der „Schule der Tiere“, und die Botschaft von Frau Federweis hallte noch lange durch den Wald: Bleib bei deinen Stärken – denn darin liegt deine wahre Größe.